Fachtag "Scham und Beschämung"

Vom wertschätzenden Umgang mit einem tabuisierten Gefühl

Fachtag am Mittwoch, dem 28.02.2024 in der KHSB Berlin für berufliche und ehrenamtliche Mitarbeiter:innen in katholischen Einrichtungen, Gemeinden, Schulen, Verbänden und andere Interessierte



Online-Dokumentation

Die Wächterin der Menschenwürde

„Wer kennt es nicht, dieses Gefühl, am liebsten im Boden zu versinken, weil etwas so unangenehm, peinlich oder verletzend ist?“, mit diesen Zeilen lud das Vorbereitungsteam des katholischen Netzwerks Kinderschutz zu seinem Fachtag ein. „Scham und Beschämung finden sich auch in der pädagogischen und pastoralen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen“, so das Netzwerk. „Durch subtile, offensichtliche oder unbewusst verletzende Bemerkungen, durch Bloßstellungen in sozialen Medien, körperliche Gewalt, Ausgrenzungen oder im Kontext von Machtmissbrauch oder sexualisierter Gewalt.“

Mit ihrer Einladung trafen die Netzwerkmitglieder auf reges Interesse. 150 Gäste waren Ende Februar in die Katholische Hochschule für Sozialwesen nach Berlin-Karlshorst gekommen. Zahlreiche Professionen aus den Diensten und Einrichtungen im Erzbistum Berlin waren vertreten. Etwa aus der Kinder-, Jugend-, Familien- und Behindertenhilfe. Lehrkräfte, Erzieher:innen, Studierende und Ehrenamtliche waren unter den Interessierten.

„Scham ist eine komplexe Emotion“, sagte Prof. Gabriele Kuhn-Zuber, Präsidentin der Hochschule, bei ihrer Begrüßung. „Sie bringt uns dazu, uns klein und unsicher zu fühlen, egal an welcher Position wir uns befinden. Aber sie bringt uns auch dazu, unser Handeln sowie unsere Normen und Werte zu hinterfragen. Ein wichtiges Thema, das sieht man auch an den Anmeldezahlen.“

Für einige Aha-Momente sorgte zu Beginn der Sozialwissenschaftler Dr. Stephan Marks mit seinem Vortrag „Scham – die tabuisierte Emotion?“. Marks ist nicht nur Autor und Supervisor, sondern bildet seit vielen Jahren Berufstätige, die mit Menschen arbeiten, zum Thema weiter. Aus seinen Fortbildungen berichtete er zum Beispiel von Pflegenden, die von älteren Menschen beschimpft, bespuckt und gedemütigt wurden. Anhand dieser Erlebnisse erklärte der Wissenschaftler so genannte Scham-Abwehrmechanismen. „Die Pflegenden bekamen auf diese Weise die Scham der älteren Menschen ab – darüber, dass sie das Bett eingenässt hatten oder etwas anderes getan hatten, für das sie sich schämten. Scham wird häufig von Trotz, Wut und Gewalt abgewehrt“, so Marks. Dennoch werde in der Praxis der sozialen Arbeit nie über Scham gesprochen, sie werde stattdessen tabuisiert. Die Emotion anzunehmen und nicht klein zu reden, sei die große Herausforderung. „Ein guter Umgang mit Schamgefühl ist entscheidend für gute Mitmenschlichkeit. Man kann also sagen, die Scham ist Wächterin der Menschenwürde“, erklärte Marks.

Wie genau in der Praxis mit Scham und Beschämung umgegangen werden kann, dieser Frage widmete sich der Fachtag anschließend in acht Workshops. Vielfältige Situationen kamen dabei zur Sprache. Beispielsweise aus der pädagogischen Arbeit, etwa wie sich körpernahe Situationen scham- und präventionsgerecht gestalten lassen. Oder wie man mit Scham in der Sexualpädagogik professionell umgehen kann.

Kirsten Messina, Studentin der Sozialen Arbeit und momentan in ihrem Praxissemester an katholischen Schulen im Einsatz, brachte einige Fragen für die Workshops mit: „Ich frage mich, wie gehe ich mit jungen Menschen um, die andere beschämen, zum Beispiel durch verbale Gewalt. Oder mit so einer Situation in der Schulklasse, also wenn Beschämung in einer Gruppe passiert.“ Antworten gab – neben den anderen Gastdozent:innen – der Experte Lars Dabbert, der einen Workshop leitete. Dabbert gab darüber hinaus tiefe Einblicke, wie traumatische Erlebnisse von Kindern und Jugendlichen eng mit Schamgefühlen verknüpft sind. Er stellte heraus, dass es entscheidend sei, das Scham- und Schuldempfinden anzuerkennen statt es wegzureden. Es könne eine Möglichkeit sein, in einer Schulklasse ganz offen mit allen Anwesenden über diese Emotionen zu sprechen, ohne eine bestimmte Person hervorzuheben. Solche Tipps für die Praxis wurden von den Teilnehmenden dankbar aufgenommen.

Dass Scham- und Schuldgefühle unabhängig vom Alter sind, machte Fridolin Schubert deutlich. Schubert kam aus der Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtung Sancta Maria zum Fachtag. Offen und ohne Umschweife berichtete er in einem Workshop: „Ich habe mich aufgrund der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche geschämt, die im Jahr 2010 publik wurden. Als dann auch noch ein Verdachtsfall in unserer Einrichtung auftauchte, habe ich mich schuldig gefühlt, obwohl ich nichts dafür konnte.“ Doch Fridolin Schubert sei gestärkt aus dieser Erfahrung hervor gegangen. „Das, worauf es am meisten ankommt, ist Transparenz. Keine Organisation ist perfekt, es passieren Fehler. Wir haben an unseren Fehlern gearbeitet und ein umfassendes Schutzkonzept vor sexualisierter Gewalt entwickelt.“

Nach dem tiefen Eintauchen in solche und andere Erlebnisse und Erfahrungen traten zum Abschluss des Fachtags Dörthe Engelhardt und Barbara Demmer vom „Improzess“ Improvisationstheater auf. Die Schauspielerinnen brachten das Publikum nicht nur zum Lachen, sondern auch zum Durchatmen nach einem intensiven Tag. So auch Uta Recher. Sie kennt aus ihrer Arbeit bei der Caritas viele Berührungspunkte mit Scham. Recher arbeitet in einem künstlerischen Projekt über das Leben von Menschen auf der Straße. Darüber hinaus ist sie verantwortlich für den Besuchsdienst älterer Menschen und hat eine Ausbildung als Schulungsreferentin für sexualisierte Gewalt absolviert. „Scham bedeutet oftmals Leid. Aber meine wichtigste Erkenntnis heute ist, dass in unserer Arbeit die  Scham ein Gewissenskompass für uns selbst ist und als solcher bleiben darf.“      

Christina Kölpin